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FLORIAN MEISENBERG
Donna Schons: Virtuelle Realität im Museum. Gespür im Sitzsack
taz.de

15.11.2017

Virtuelle Realität im Museum

Gespür im Sitzsack

Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie: Im Zeppelin Museum erforscht die Ausstellung „Schöne neue Welten“ digitale Wirklichkeiten.

Der Eintritt in die virtuelle Realität gestaltet sich ausgesprochen entspannt. Körperlos schwebt man durch eine Dimension aus animierten Goldfischen und Zungen, während eine beruhigende Stimme flüsternd dazu aufruft, nach und nach von jeglichen körperlichen Anstrengungen loszulassen. „ASM(V)R“ heißt das Video von Salome Asega, Reese Donohue und Tongkwai Lulin, das zu Beginn der Ausstellung „Schöne neue Welten“ auf die Reise durch verschiedenste digitale Paralleluniversen vorbereiten soll.

Orientiert an den bei YouTube sich großer Beliebtheit erfreuenden AMSR-Videos – so genannt, weil beim Ansehen durch einflüsternde Stimmen und Geräusche, wie das sanfte Streichen über Borsten eines Haarkamms, bei den Zuschauern sensorische Reize ausgelöst werden sollen –, hat das US-Künstler-Kollektiv Erlebniswelten geschaffen, die zum Verweilen einladen. Von losgelösten Körperteilen umgeben schwebt man im Licht der untergehenden Sonne über einer reflektierenden Wasseroberfläche und steigt immer höher, bis man auf einen aquamarinblauen Schädel hinunterblickt, der das Zentrum dieser digital dreidimensionalen Arbeit bildet.

Beim Betrachten von „ASM(V)R“ versinkt man in der realen Welt zunehmend in den Tiefen eines lilafarbenen Sitz­sacks. Nicht ohne Grund gehört dieses Möbelstück auch zu Gaming-Conventions und Videospielmessen, erleichtert es durch seine anschmiegsame Form doch das losgelöste Abtauchen in andere Welten. Auch Sidsel Meineche ­Hansens Arbeit inkorporiert einen flachen, aus schwarzem Kunstleder gefertigten Sitzsack in ihre Videoinstallation. In einer Position irgendwo zwischen Sitzen und Liegen wird man Teil eines bizarr anmutenden VR-Pornos.

„Eva 3.0“, ein von einer Plattform für VR-Porno-Charaktere heruntergeladener Avatar, kopuliert mithilfe eines Umschnalldildos mit einer von der Künstlerin geschaffenen Skulptur. Mindestens ebenso spannend wie das aktive Erleben der Szenerie ist hier das Beobachten der anderen Besucher, die sich mit der VR-Brille auf dem Kopf zunehmend von ihrer Außenwelt entfernen.

Rasante Entwicklung

Angesichts der rasanten Entwicklung von Virtual Reality, die abseits von Unterhaltung und Pornografie unter anderem auch im Bereich der Traumverarbeitung und der Digitalisierung verlorener Kulturgüter zunehmend an Bedeutung gewinnt, spricht Ina Neddermeyer von einer Bildrevolution. Mit „Schöne neue Welten“ wagt die Kuratorin des an der Schnittstelle zwischen Kunst und Technologie agierenden Zeppelin Museums in Friedrichshafen eine Bestandsaufnahme. Virtuelle Realität zeigt ihr revolutionäres Potenzial in dieser Ausstellung vor allem dort, wo parallele Lebensformen entworfen werden – etwa in der Arbeit des kenianischen Nest Collective.

Sein afrofuturistischer Science-Fiction-Film „Let this be a warning“ versetzt Zuschauer mithilfe einer 360-Grad-Per­spek­tive in die Rolle von Astronauten, die auf einem weit entfernten Planeten auf eine afrikanische Kolonie treffen. Dem Vorwurf, dass menschliche Entdeckungsfreude in Wahrheit bloß Ausdruck von Bedürfnissen nach dem blanken Konsum anderer Kulturen ist, mag man umringt von Soldaten mit Maschinengewehren nicht allzu viel erwidern. Die Videoarbeit dreht bestehende Machtverhältnisse zwischen Europa und Afrika einfach um und evoziert so gerade bei weißen Ausstellungsbesuchern ein Gefühl von Beklemmung, das nach Absetzen der Brille in Empathie umschlagen soll.

Auch Halil Altindere schickt die Besucher in den Weltraum. Der türkische Künstler visualisiert ironisch die Umsiedelung syrischer Flüchtlinge, derer sich kein Nationalstaat so recht annehmen möchte, auf den Mars. Während die beiden intergalaktischen Videos Grenzen zwischen Utopie und Dystopie für nur wenige Minuten verwischen, zeugt die Dokumentation einer Performance von Micha Cárdenas von einer deutlich tieferen Immersion in die digitale Welt.

365 Stunden am Stück verbrachte die Künstlerin 2008 in dem Onlinespiel ­„Second Life“ und setzte die VR-Brille dabei nur ab, um auf die Toilette zu gehen. Angesichts einer US-amerikanischen Gesetzesauflage, nach der eine Transgender-Person 365 Tage als das entsprechende Geschlecht gelebt haben muss, bevor sie sich einer Geschlechtsangleichungsoperation unterziehen darf, stellt Cárdenas die Frage nach digitaler Identität und Zeitlichkeit.

Gerade im Unterhaltungssektor verspricht VR seinen Nutzern ein ganzheitliches Eintauchen in andere Welten. Schon heute erlaubt dieDeep-Motion-Technologie, die auch Florian Meisenberg in seiner eigens für die Ausstellung angefertigten interaktiven Installation verwendet, eine direkte Einflussnahme auf digitale Umgebungen. Ganz ohne Controller können Objekte durch Hand- und Körperbewegungen gesteuert werden. In Meisenbergs Arbeit sieht man die eigenen Hände digital verfremdet in einer anderen Welt operieren. In den meisten anderen gezeigten Werken jedoch verschwindet der eigene Körper.

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