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Ort der Entschleunigung
Handelsblatt

10.05.2024

Von Susanne Schreiber
Der Artikel erschien auch in der Printausgabe Nr. 90, 10./11./12. Mai 2024

Die Galerie Wentrup eröffnet zwanzig Jahre nach ihrer Gründung in Berlin eine Zweigstelle in Venedig. Der ansonsten hektische Kunstmarkt soll dort eine Beruhigung erfahren.

Venedig. Fashionistas eines gewissen Alters kennen die italienische Modemarke Roberta di Camerino noch. Auf Kunstmessen kann man gelegentlich deren Vintage-Handtaschen aus Samt und in coolen Farbstellungen erwerben. Ein geschwungener Buchstabe R steht für die Marke Roberta. Von 1949 bis 1980 produzierte Roberta Statement-Taschen und It-Bags, die auch Elizabeth Taylor und Grace Kelly begeisterten.
Das Atelier der 2010 89-jährig verstorbenen Designerin Giuliana Camerino liegt in Cannaregio im Norden Venedigs. Die Galerie Wentrup aus Berlin kann das lichtdurchflutete Atelier mit kleinem Garten, das hinter einem beeindruckenden venezianischen Palast liegt, langfristig von den Roberta-Erbinnen mieten. „Ihnen war eine kulturelle Nutzung, eine Destination für die Kunst wichtig“, erzählt Jan Wentrup dem Handelsblatt kurz vor der Eröffnung, die parallel zur Eröffnung der 60. Kunstbiennale stattfand.

Von 2021 bis 2023 unterhielten der auf allen wichtigen Messen präsente Galerist und seine Frau Tina eine Zweigstelle am Feenteich in Hamburg. Das sei ausgelaufen. Jetzt schlagen die beiden ein neues Kapitel auf in spektakulär schönen Räumen mit einem kleinem Gästeappartement.
„Wir schaffen hier ein Gegenprogramm zum hektischen Kunstmarkt. Der läuft inzwischen mit seinem Messebetrieb hohl“, begründet Wentrup die Standortwahl. „Venedig entschleunigt mit seinen Kanälen jeden Besucher. Hier kann man zur Ruhe kommen und sich auf die Kunst konzentrieren.“ Es zögen mehr internationale Galerien für zeitgenössische Kunst in die Lagunenstadt, erzählt er. Venedig sei nicht mehr nur in den Jahren der Kunstbiennale ein Magnet für Privatsammlerinnen und -sammler.

Mit ihrer Eröffnungsschau „Capriccio“, zu sehen bis 3. August, verneigen sich die Neuankömmlinge vor Italien. Enzo Cucchi ist mit einer Leihgabe vertreten. Der Maler der Transavanguardia wird hier zur historischen Referenzfigur von drei jüngeren Künstlerinnen. Alle drei verbindet eine Bildsprache, die von der Figuration ausgeht und emotional ins symbolhaft Surreale führt – am deutlichsten bei Marion Verbooms hybriden Keramikskulpturen im Mittelformat. Ein menschlicher Leib endet auf Schulterhöhe etwa in einem tentakelartigen Bündel in Blautönen.

Die Malerin Mary Ramsden steuert abstrakte Bilder bei. In ihrem subtilen Kolorit spiegelt sie Winterlicht und Winterfarben von Venedig. Ausgesprochen gut in die Lagune und in unsere vom Klimawandel geprägte Zeit passen die großen Fotos von Anastasia Samoylova. Sie fotografiert in Florida Architektur, die an die italienische Renaissance erinnert. Sie entdeckt Motive und Farben, die auch italienischen Ursprungs sein könnten, und Miamis Überflutungen durch Hurrikans lösen hier ein Echo aus.

Der Weg zu Wentrup Venezia in die Calle de la Testa 6359 ist gut zu finden, wenn man sich an der Kirche San Giovanni e Paolo und dem Ponte Cavallo orientiert. Wer sich nach dem Kunstgenuss stärken möchte, dem empfiehlt Wentrup eine Pause in der berühmten Pasticceria Rosa Salva am Campo San Giovanni e Paolo. Auch Rosa Salva gehört in Venedig zum Kulturinventar, genau wie Roberta.